Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Der Roosevelt-Moment

Von MdL Jochen Ott

Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion NRW

Aufbruch für Industrie, Mittelstand und NRW - fordert Jochen Ott, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion NRW, im NRW-Wirtschaftsblog.

Was tun gegen die Wirtschaftskrise? Zu allererst: Selbstbewusst bleiben. Die wirtschaftliche Substanz des Landes ist nach wie vor stark, das Unternehmertum ist innovativ, die Arbeitnehmer sind leistungsbereit. Und doch besteht die Gefahr, dass wir durch eigene Versäumnisse, aber vor allem durch die aggressive Investitions- und Industriepolitik in China und den USA erdrückt werden – mit all den politischen Folgen für unsere Gesellschaft und unsere Freiheit. 

Auf falsche Vorbilder und falsche Rezepte zu setzen, wäre der größte Fehler, den wir in unserer Lage begehen könnten. Weder Haushaltskürzungen noch Sozialabbau noch Steuergeschenke für die oberen fünf Prozent könnten gegen die Wirtschaftskrise helfen. Im Gegenteil: Das sind Therapien, die die Krise verschlimmern und gravierende politische Nebenwirkungen mit sich bringen. Das gilt erst recht für den in manchen ökologischen und liberalen Kreisen favorisierten „radikalen Strukturwandel“, euphemistisch auch „Disruption“ genannt. Man darf sich nichts vormachen: Das bedeutet erst mal nichts anderes als die Aufgabe von Industrien und Industrie-Jobs. Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Wer jetzt dem Marktradikalismus die Tür öffnet, lässt den Rechtsradikalismus hinein.

Was ist stattdessen zu tun? Wir brauchen eine - im Idealfall zwischen Bund und Land abgestimmte - Wirtschaftspolitik, die auf unsere spezifischen Probleme zugeschnitten ist. Fünf Punkte sind zentral. 

Erstens: Aktive Industriepolitik und Förderung privater Investitionen

Ein Land, das im 21. Jahrhundert industrielle Wertschöpfung erhalten und ausbauen will, muss aktive Industriepolitik betreiben. Die Chinesen tun das, die Amerikaner erst recht. Joe Biden hat den Inflation Reduction Act ins Werk gesetzt: 800 Milliarden für Infrastruktur- und Klimaschutztechnologien. Donald Trump folgt mit einem 500-Milliarden-Programm für Künstliche Intelligenz - der Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. 

Wie lange wollen wir in Deutschland und Europa dieser technologischen Mobilmachung noch tatenlos zusehen? Amerikaner und Chinesen spülen uns von den Weltmärkten, wenn wir weiterhin Schuldenbremsen und Ordoliberalismus für Tugenden halten. 

Deutschland und Nordrhein-Westfalen brauchen Heimat-Stahl, Heimat-Chemie, und Heimat-Maschinen: für Wertschöpfung, gute Arbeit und mehr Unabhängigkeit. Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir unsere Heimatindustrie auch gegen amerikanische Zölle und chinesische Dumping-Preise verteidigen. Es bleibt uns dann keine Wahl.

Moderne Industriepolitik setzt aber eigentlich nicht auf Protektionismus, sondern fördert gezielt private Investitionen. Wir sollten auf eine Investitionsprämie für alle Unternehmen setzen, die in Deutschland investieren („Made in Germany– Bonus“), auch um zu verhindern, dass blinde Steuersenkungen in den Rückkauf von Aktien, in die Erhöhung von Boni oder in Dividenden fließen. Diese einfache und mittelstandsfreundliche Förderung muss durch die direkte Förderung strategisch wichtiger Technologien und Sektoren ergänzt werden: Digitalisierung, KI, Energie, Stahl und Chemie. 

Eine solche bundesweite Industriepolitik sollte durch einen landeseigenen Transformationsfonds für NRW ergänzt werden. Dieser Fonds wird Start-Ups und mittelständische Unternehmen mit privatem Risiko-Kapital versorgen – das bisher die meisten Unternehmen nicht erreicht. Dazu müssen aber auch Regeln geändert und Auflagen gelockert werden. Ziel ist, das Eigenkapital der (mittelständischen) Unternehmen zu stärken, ihre Unabhängigkeit sichern und mit ausreichend Mitteln zu versorgen, damit sie schnell in neue ökologische und digitale Produktionsprozesse investieren können.

Zweitens: Investitionsstau auflösen und kommunale Finanzen sanieren

Bröckelnde Straßen, Schienen und Brücken, schlechte Bildungsinfrastruktur und eine veraltete Infrastruktur für moderne Energiesysteme, insbesondere Strom, Wasserstoff und Wärme. Der Investitionsstau in Deutschland kommt der Wirtschaft teuer zu stehen – und er verhindert private und Investitionen und Innovationen. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft schätzt den öffentlichen Investitionsbedarf für eine „zukunftsfähige Wirtschaft“ auf 600 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren. An neuen Sondervermögen oder eine Reform der Schuldenbremse kommen wir nicht vorbei. In jedem Fall würde eine öffentliche Investitionsoffensive Nachfrage, Umsätze und Gewinne steigern, kurzfristig das Wachstum und langfristig das Wachstumspotential deutlich erhöhen. 

Da aber 50 Prozent der öffentlichen Investitionen durch die Städte und Gemeinden getätigt werden (müssen), ist es dringend erforderlich, sie auch wieder zu Investitionen zu befähigen. Derzeit lässt das Land die Kommunalfinanzen vor die Wand fahren, mit der Folge, dass fast überall in NRW Steuern und Gebühren erhöht werden: eine schwere Belastung für Unternehmen und Familien. Stattdessen muss das Land den Verbundsatz für die Kommunen erhöhen und dringend die Altschuldenlösung umsetzen. Zudem kann das Land mit einer Neuauflage des Förderprogramms „Gute Schule“ Gebäude sanieren und modernisieren sowie für kommunale Investitionen in Milliardenhöhe sorgen. 

Drittens: Kaufkraft stärken, Familien entlasten

Bundes- und Landespolitik müssen die akute Nachfrageschwäche bekämpfen. Sie kann und muss die Kaufkraft von Arbeitnehmern und berufstätigen Familien stärken. Von der Anhebung des Mindestlohnes auf 15 Euro würden allein in NRW mindestens 1,6 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor profitieren, die ihre Einkommenssteigerung direkt in Konsum überführen würden. Das gleiche gilt für eine Steuerreform, die insbesondere Arbeitnehmerfamilien durch Umsatz- und Einkommenssteuersenkungen sowie durch ein kostenloses Kita- und Schulessen entlastet. Die Landespolitik muss diese Entlastung durch die Abschaffung von Kitagebühren unterstützen. Insgesamt sind Entlastungen für eine durchschnittliche Arbeitnehmerfamilie von über 3000 Euro im Jahr möglich, die die Binnennachfrage befeuern.

Viertens: Bezahlbare Energie

Ein unerlässlicher Bestandteil von Planungssicherheit und moderner Industriepolitik sind verlässlich wettbewerbsfähige Energiepreise. International konkurrenzfähige Preise für Strom aus erneuerbaren Energien sind in Sicht, aber die Gefahr ist groß, dass in der Übergangszeit Wertschöpfung und Arbeitsplätze verloren gehen. Zum Teil ist das schon der Fall. Deshalb ist und bleibt ein Brückenstrompreis für energieintensive Unternehmen dringend erforderlich, der allerdings an Transformationsverpflichtungen und Standortgarantien gebunden sein sollte.

Fünftens: Mehr Freiheit für Arbeitnehmer und Unternehmen

In Deutschland dauern viele Planungs- und Genehmigungsverfahren zu lange. Zu viele Dokumentationspflichten und Auflagen nutzen wenig, belasten aber stark. 

Die Bundesregierung hat im letzten Jahr mit den Ländern einen Deutschlandpakt zur Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung vereinbart. Diesen Weg müssen wir konsequent weitergehen, auch indem wir die öffentliche Verwaltung konsequent digitalisieren. Andere Länder in Europa können Vorbild sein.

Wir müssen aber auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Bürokratie befreien. Lehrer, Erzieherinnen oder Pflegekräfte werden von Auflagen, Kontrollen und Dokumentationspflichten erdrückt. Dabei sind die allermeisten hochkompetent und guten Willens. Sie wissen schon, was zu tun ist. Weniger Bürokratie und mehr Vertrauen in ihr Können, muss die Devise sein.

Der Roosevelt-Moment

Wir müssen die Zeichen der Zeit erkennen. Dies ist keine Zeit für Marktradikalismus. Dies ist nicht die Zeit, Tech-Oligarchen zu umgarnen. Die Gefahr ist groß, dass wir durch falsche Vorbilder und falsche Rezepte den technologischen Anschluss verpassen, Industrie verlieren und Opfer amerikanischer Kartelle werden. Wählen wir die richtigen Vorbilder. Theodor Roosevelt, Republikaner und der 26. Präsident der USA, zerschlug die großen Monopolisten seiner Zeit, weil sie Wettbewerb und freies Unternehmertum unterdrückten. Franklin Roosevelt, der 32. Präsident, besiegte den Faschismus, schuf den modernen Sozialstaat und Wohlstand für 100 Millionen. Wir wissen, was sie heute täten. Unsere Zeit ist ein Roosevelt-Moment. Nutzen wir ihn!

Über den Autor
MdL Jochen Ott

Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion NRW

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