Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung umsetzen!

Von Rüdiger Otto

Präsident des Unternehmerverbandes Handwerk NRW

Aus der Sicht des Handwerks benennt Rüdiger Otto im Blog zehn Punkte, um NRW zum "Berufsbildungsland Nummer eins" zu machen.

Für die Betriebe im deutschen Handwerk ist die Fachkräftesicherung laut Umfragen die größte Herausforderung für die Zukunft. Sie überlagert alle anderen Themen, weil davon letztlich abhängt, ob wir die großen Transformationsaufgaben, wie beim Klimaschutz, personell überhaupt umsetzen können. Der demografische Wandel ist die ganz große Herausforderung, vor der die gesamte Gesellschaft und damit auch das Handwerk steht. Im Handwerk hat sich der Fachkräftemangel in den vergangenen Jahren noch einmal drastisch zugespitzt. Nach Schätzungen des ZDH fehlen derzeit in Deutschland 250.000 Handwerkerinnen und Handwerker in den Betrieben, und dies mit steigender Tendenz. Der Mangel an Fachkräften wird in den kommenden Jahren in einen kritischen Bereich gelangen, wenn die Babyboomer-Jahrgänge in Rente gehen. Davon betroffen sind alle Berufe und Gewerkegruppen.

Besonders viele Fachkräfte fehlen auch in den Bauberufen. Und damit gefährdet der Personalmangel nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die politischen Ziele der Bundesregierung. Um ein Beispiel zu nennen: In Deutschland gibt es etwa 43 Millionen Wohnungen, bis 2040 sollen diese komplett klimaneutral werden. Da ein großer Teil des Gebäudebestands bisher nicht energieeffizient ist, gehen Fachleute von einem jährlichen Umbaubedarf von rund zwei Millionen Wohnungen aus. Klar ist: Mit dem bisherigen Personalbestand der Betriebe werden diese Ziele nicht zu erreichen sein.

Der Personalmangel im Handwerk hat für Kunden und Betriebe bereits jetzt spürbare Auswirkungen. Er führt dazu, dass Handwerkerleistungen teurer werden und bestimmte Dienstleistungen nicht mehr angeboten werden können. Tragisch ist auch, dass durch den Fachkräftemangel viele Betriebsübergaben gefährdet sind.

Obwohl es im Handwerk hervorragende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven gibt, entscheidet sich inzwischen mehr als die Hälfte aller Schulabgängerinnen und Schulabgänger in Deutschland für das Abitur und ein anschließendes Studium. Immer noch fehlt der beruflichen Ausbildung die gesellschaftliche Reputation, was eine Folge jahrzehntelanger einseitiger Bevorzugung akademischer Bildungsgänge ist. Diese langfristige Fehlentwicklung ist nicht einfach von einem Tag auf den anderen umzukehren.

Hier stellt sich die Frage: Warum wird das Handwerk bei der Berufswahl vielfach ausgeblendet?

Fest steht für mich: Wir müssen unbedingt und durch eine gemeinsame Kraftanstrengung erreichen, dass das völlig überholte Bild vom Handwerk endlich korrigiert wird. Wir werden alle Register ziehen müssen, um mehr junge Menschen zu erreichen und ihnen zu zeigen, wie gut die Zukunftsaussichten im Handwerk sind. Viele Berufe im Handwerk sind hochqualifiziert und sind zunehmend auf studierfähige Schulabgänger angewiesen. Der Anteil der Auszubildenden im Handwerk mit Abitur steigt stetig an: Wir haben Berufe, in denen heute schon ein Drittel oder 40% der Auszubildenden eine Hochschulzugangsberechtigung haben. Es sollte deutlich gemacht werden, dass eine berufliche Ausbildung der Einstieg in eine lebenslange Berufskarriere sein kann, an die sich durchaus noch ein Studium anschließen kann. Die Hochschulen bieten inzwischen auch verstärkt duale Studiengänge an, die eine Ausbildung mit einem Studium verknüpfen.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat mit ihrer neuen Fachkräfteinitiative dazu die richtigen Weichen gestellt. Besonders das erklärte Ziel, Nordrhein-Westfalen zum „Berufsbildungsland Nummer eins“ zu machen, begrüße ich sehr. Auch die vom Land eingeführte Meisterprämie ist ein wichtiger Meilenstein. Für die erfolgreiche Umsetzung dieser Gesamtstrategie sind aber noch weitere Schritte nötig, wie beispielsweise die flächendeckende Bereitstellung ausbildungsbegleitender Hilfen an den Berufskollegs und eine Beseitigung des Fachlehrermangels. Aus Sicht des Handwerks sind die nachfolgenden Punkte notwendig, um Nordrhein-Westfalen zum »Berufsbildungsland Nummer eins« zu machen:

  1. Das Land verankert die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung im Rahmen seiner landesrechtlichen Möglichkeiten (Landesrecht, Tarifrecht im öffentlichen Dienst) und setzt sich beim Bund für ein Gesetz zur rechtlichen Verankerung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) ein.
  2. An allen Schulformen wird die Berufliche Orientierung ergebnisoffen auf Karrieren über die berufliche Bildung und über die akademische Bildung ausgerichtet. Der Weg in die Hochschule wird nicht stärker forciert als der Weg in die berufliche Bildung.
  3. Der Unterricht an allgemeinbildenden Schulen wird reformiert. Verpflichtende praktische Unterrichtseinheiten als Regelunterricht bieten Gelegenheiten für Schülerinnen und Schüler, praktische Erfahrungen mit Materialien, Werkzeugen, Maschinen usw. zu sammeln. Dazu wird ebenfalls die Ausbildung der Lehrkräfte so angepasst, dass entsprechend praktischen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse vermittelt werden können.
  4. Die Kenntnisse in der Bevölkerung über die Berufliche Bildung sind Grundvoraussetzung für die angestrebte höhere Wertschätzung. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollen wissen, was die duale Ausbildung in Deutschland ausmacht, wie sie funktioniert, welchen Stellenwert sie hat und welche Vorteile sie bietet.
  5. Die öffentliche Berufsbildungsinfrastruktur wird unabhängig von der Leistungsfähigkeit der Träger von Berufskollegs und überbetrieblichen Bildungszentren modernisiert, auf den Stand der Technik gebracht und zukunftsfest weiterentwickelt. Dafür werden entsprechende Fördermittel zur Verfügung gestellt.
  6. Der Fachlehrkräftemangel beim Dualen Partner Berufsschule wird behoben, der Unterricht sichergestellt und der Ressourceneinsatz am Berufskolleg für die duale Ausbildung priorisiert. Dazu gehört auch eine klare Perspektive für Werkstattlehrkräfte, Fachlehrkräfte zu werden.
  7. Die Exzellenz in der Berufsbildung wird in großem Maßstab gefördert. Auch die Begabtenförderung und die Förderung der Mobilität der Lernenden ziehen mit der im Hochschulsystem zumindest gleich.
  8. Talent-Scouts werden nicht nur an und für Hochschulen gefördert, sondern in gleichem Umfang für die berufliche Aus- und Fortbildung bei entsprechenden Einrichtungen der Berufsbildung.
  9. Azubiwohnen wird analog der Studierendenwohnheime im Land etabliert. Das Azubiticket wird an den Preis des Semestertickets angepasst.
  10. Eine systematische Unterstützung für höhere Erfolgsquoten in der Abschluss-/ Gesellenprüfung besonderer Zielgruppen, wie Geflüchtete sowie Personen mit Migrationshintergrund ohne gute Deutschkenntnisse, wird etabliert.

Akademiker wie Berufspraktiker sind gleichermaßen wichtig für die Modernisierung und die Transformation unseres Landes. Wer die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung umsetzen will, muss die berufliche Bildung finanziell besser ausstatten. Die richtigen Weichen in NRW sind gestellt, aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Das Umdenken in den Köpfen hat gerade erst begonnen.

Über den Autor
Rüdiger Otto

Präsident des Unternehmerverbandes Handwerk NRW

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