Herr Kirchhoff, der Aufschwung der deutschen Wirtschaft bleibt aus. Wie bewerten Sie die Lage?
Kirchhoff: Sie ist ernst. Die Realität ist, dass wir seit drei Jahren nicht nur kein Wachstum mehr haben, wir schrumpfen. Daraus folgt: Mit dem, was wir erwirtschaften, können wir uns unsere jetzigen Sozialsysteme so nicht mehr leisten. Die Insolvenzen nehmen zu, der Export schwächelt. Wir brauchen jetzt dringend einen Herbst der Reformen, um einen Stimmungsumschwung auszulösen.
Wie können wir besser werden?
Kirchhoff: Wettbewerbsfähigkeit hängt vor allem mit den Kosten zusammen – und die sind hierzulande zu hoch: Das gilt für die Energiekosten, die Steuern und die Höhe der Sozialabgaben. Diese Kosten belasten Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam. Es ist nicht gesund, dass Millionen Bürgerinnen und Bürger am Sozialstaat hängen und nicht arbeiten. Das ist auch ungerecht. Es kann nicht sein, dass es Menschen besser geht, wenn sie nicht arbeiten, als wenn sie arbeiten.
Woran liegt das?
Kirchhoff: An einem Fehler im System des deutschen Wohlfahrtstaates, der eben nicht mehr auf das Prinzip des „Förderns und Forderns“ setzt. Zu oft lohnt sich die Arbeitsaufnahme für Leistungsempfänger nicht. Sie bekommen zum Beispiel Wohn- und Heizkosten erstattet. Demgegenüber müssen viele Arbeitnehmer eisern sparen, weil Mieten und Nebenkosten so gestiegen sind. Das geht so nicht und muss sich ändern. Es ist eine Frage von Fairness und Leistungsgerechtigkeit und letztlich der gesellschaftlichen Akzeptanz unseres Sozialstaates.
Friedrich Merz hat im Wahlkampf gesagt, an diese Themen müssen wir ran. Wo bleibt der Merz-Effekt?
Kirchhoff: Der Bundeskanzler musste sich zuerst darum kümmern, den Ruf Deutschlands in Europa und in der Welt wieder zu verbessern. Das hat er hervorragend gemacht, auch in Washington bei Donald Trump.
Aber er flüchtet vor der deutschen Innenpolitik, oder?
Kirchhoff: Friedrich Merz kann nicht alles gleichzeitig machen. Wenn seine Priorität Nummer eins angesichts der riesigen geopolitischen Herausforderungen zunächst die Außenpolitik war, hätten bis auf den Außen- und den Verteidigungsminister alle aus seinem Kabinett, die zu Hause sind, in die Bresche springen müssen. Und das hat nicht wirklich gut geklappt.
Durch die Sondervermögen des Bundes ist genug Geld da. Muss jetzt nicht Priorität Nummer eins sein, dieses Geld zukunftsweisend zu investieren, anstatt den Sozialstaat umzukrempeln?
Kirchhoff: Wenn wir diese Sondervermögen eines Tages zurückzahlen wollen, benötigen wir ein höheres Wachstum. Das ist das Wichtigste. Wir müssen also alle Bremsen wegnehmen, die Wachstum verhindern: hohe Energiekosten, viele Subventionen, zu hohe Sozialkosten. Wenn zum Beispiel viel zu hohe Energiekosten verhindern, dass Gießereien gießen und Schmieden schmieden und die Firmen deshalb ins Ausland gehen müssen, muss man reagieren. Sonst treiben wir unsere Industrie aus dem Land.
Rahmenbedingungen sind das eine, aber sind deutsche Produkte noch gut genug?
Kirchhoff: Unsere Unternehmen sind bei vielen Produkten – etwa Autos, Elektrogeräten, Leuchten, Spezialmaschinen – immer noch weltführend. Die große Frage ist nur, wo das alles produziert wird. In Deutschland wurden früher sechs Millionen Autos im Jahr produziert, heute nur vier Millionen. Weltweit produzieren wir aber insgesamt sogar mehr Autos als früher. In Deutschland stimmen die Rahmenbedingungen nicht mehr.
Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche steht in der Kritik, weil sie auf neue Gaskraftwerke setzt und gleichzeitig die Einspeisevergütung für Solaranlagen streichen will. Was halten Sie davon?
Kirchhoff: Von der Solar-Förderung profitieren nur Einzelne, und diese Anlagen rechnen sich auch ohne Subventionierung. An dieser Stelle kann der Staat sparen. Und die Gaskraftwerke sind die Antwort auf die Frage, wo bei Dunkelflaute der Strom herkommt. Da geht es um unsere Versorgungssicherheit.
Wo kann der Staat noch sparen?
Kirchhoff: In der Industrie ist die Zahl der Beschäftigten von elf auf acht Millionen gesunken. Gleichzeitig stieg die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor von acht auf zwölf Millionen. Das ist volkswirtschaftlich eine fatale Entwicklung. Die viel zu große Zahl der Beschäftigten in den Verwaltungen muss deutlich abgebaut und durch digitale Angebote ersetzt werden. Die Bürger erleben es doch in ihrer Kommunalverwaltung: Obwohl dort immer mehr Leute arbeiten, dauert vieles immer länger.
Aber die Ämter in den Städten sind doch eher unter- als überbesetzt, oder?
Kirchhoff: Viel mehr Dienstleistungen könnten digital ablaufen. Wenn ich unsere Unternehmen zum Maßstab nehme, könnten 30 Prozent des Personals in den Verwaltungen bei einer konsequenten Digitalisierung eingespart werden.
Sie haben zur Halbzeit dieser NRW-Landesregierung gesagt, in der zweiten Hälfte müsse Schwarz-Grün „mehr Zug zum Tor“ entwickeln. Wurde Ihr Ruf erhört, zum Beispiel der nach mehr Straßenbau?
Kirchhoff: Da geht noch mehr. Es wird zwar gebaut, aber das könnte auch schneller gehen. Ein positives Beispiel ist die Fertigstellung der Rahmedetalbrücke auf der A45. Wir müssten in NRW noch viel mehr die freie Wirtschaft nutzen, Beschleunigungsanreize setzen und Verwaltungsvorschriften abbauen. Dann ginge vieles günstiger und schneller.
Zu den bekannt schlechten Rahmenbedingungen kommt eine weitere hinzu: 15 Prozent Zoll auf deutsche Produkte in den USA. Wie sehr trifft das unsere Unternehmen in NRW?
Kirchhoff: Das trifft uns schon massiv. Und was wir lernen mussten, ist, dass man Trump nicht kontrollieren kann. Deshalb will ich das Verhandlungsergebnis von Frau von der Leyen auch nicht kritisieren.
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Arbeitgeberpräsident Arndt Kirchhoff wird angesichts der schwierigen Lage im dritten Rezessionsjahr in Folge nachdenklich. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich
Andere, etwa China und Kanada, halten mit Gegenzöllen hart dagegen, haben wir Europäer uns von Trump nicht erpressen lassen?
Kirchhoff: Wir sind derzeit leider nicht in einer so starken Position, wir müssen unsere Rolle schon realistisch einschätzen. Klar ist aber auch: 15 Prozent Basiszoll für unsere Produkte und Null auf amerikanische ist natürlich kein guter Deal.
Haben Sie denn schon Gas aus den USA bestellt und Investitionen im Trump-Land geplant?
Kirchhoff: So etwas kann und darf Politik den Unternehmen nicht vorschreiben, da sollte uns niemand aus Brüssel oder auch Berlin reinreden.
Genau das hat von der Leyen aber gemacht, indem sie Trump die Abnahme von US-Gas und Milliarden-Investitionen zugesagt hat.
Kirchhoff: Ich weiß, bleibe aber dabei, dass dies ein unzulässiger Eingriff in die Marktwirtschaft wäre. Und: Wie will der Staat das denn bestimmen und kontrollieren?
Sie wünschen sich einen Reformherbst, um den Sozialstaat schlanker zu machen. Bei der Rente etwa plant die Regierung aber sogar neue Ausgaben.
Kirchhoff: Heute werden halb so viele Kinder geboren wie zu meiner Zeit - und die müssen doppelt so viele Rentner bezahlen. Dass das nicht funktionieren kann, sollte eigentlich klar sein. Den Koalitionsvertrag abzuarbeiten, wird nicht reichen. Ich wünsche mir mehr Mut auch zu unpopulären Reformen in Berlin. Dass Frau Reiche eine Diskussion über eine längere Lebensarbeitszeit angestoßen hat, finde ich absolut richtig.
Auf Druck der SPD steigt der Mindestlohn bis 2026 auf 14,60 Euro. Wird das Arbeitsplätze in NRW kosten?
Kirchhoff: Ja klar. Da müssen Sie nur die Betriebe fragen, die davon betroffen sein werden, etwa in der Gastronomie oder Logistik. Auch die Landwirte sagen, dass sie dann weniger Erdbeeren und Spargel anbauen werden, weil die Erntehelfer zu teuer werden.
Weniger Bürokratie fordert die Wirtschaft seit Jahrzehnten, warum sollte dieser Regierung gelingen, was allen anderen nicht gelang?
Kirchhoff: Über jede einzelne Regel zu debattieren, funktioniert nicht. Da gibt es immer Fachleute, die einem erklären, warum sie so wichtig ist. Deshalb empfehle ich der Regierung einen Haircut: Lasst uns alle Vorschriften auf den Stand von vor zehn Jahren zurücksetzen. Wirklich gute Neuerungen kann man dazunehmen, aber erst einmal würden viele Vorschriften wegfallen, die niemand braucht. Dass ich eine Trittleiter in meinem Betrieb nur benutzen darf, wenn jemand jedes Jahr ein neues Siegel draufklebt, kann ich im Ausland niemandem erklären.
Das Interview führten Matthias Korfmann, Martin Korte und Stefan Schulte. Es erschien in der WAZ vom 4. September: https://www.waz.de/wirtschaft/article409857305/nrw-arbeitgeberpraesident-jeder-dritte-verwaltungsjob-kann-weg.html