Herr Pöttering, wie ernst ist die Lage in der nordrhein-westfälischen Wirtschaft?
Johannes Pöttering: Die Sorgen sind groß. In der chemischen Industrie haben die Unternehmen aktuell nur noch eine Auslastung von 70 Prozent. In der Metall- und Elektroindustrie NRW ist die Produktion im Vergleich zu 2019 um 23 Prozent eingebrochen, bei der Beschäftigung sind wir mittlerweile bei minus 9 Prozent. Es ist zu befürchten, dass sich der Stellenabbau angesichts des Personalüberhangs beschleunigen könnte. Aktuell gehen allein in der NRW-M+E-Industrie jeden Monat rund 2.100 Industriearbeitsplätze verloren.
Werden also Menschen aufgrund der Wirtschaftsflaute entlassen?
Bisher fallen in der Industrie noch viele Stellen von Beschäftigten weg, die in Rente gehen und deren Stellen nicht nachbesetzt werden. Jetzt aber kommen wir in eine Phase, in der auch bestehende Arbeitsplätze abgebaut werden, wenn sich der Trend fortsetzt. In der NRW-Metallindustrie etwa reden wir über hochbezahlte Arbeitsplätze mit einer Durchschnittsvergütung von fast 65.000 Euro im Jahr. Fallen die weg, hat das Folgen auch für Steuereinnahmen und Sozialbeiträge.
Das Thema Rente bestimmt aktuell die Debatten. Wie ist Ihr Standpunkt?
Die Babyboomer gehen jetzt in Rente. Die nächsten fünf Jahre sind die herausforderndsten überhaupt. Und ausgerechnet jetzt, wo die Welle kommt, will die SPD eine Rolle rückwärts machen, indem sie die Haltelinie bei 48 Prozent einziehen und zudem auch noch den Nachhaltigkeitsfaktor rausnehmen will. Damit produziert man Ewigkeitskosten für die Rente. Es geht um dreistellige Milliardenbeiträge. Ich kann verstehen, dass das nun in der Koalition hitzig diskutiert wird.
Hat die Junge Union mit ihren Einwänden also einen Punkt?
Absolut. Ich finde, die Kritik der Jungen Union ist völlig berechtigt. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Auch das, was bis 2031 beschlossen werden soll, halte ich nicht für richtig. Die Lohnzusatzkosten steigen enorm, also die Kosten für die Arbeitslosen-, Renten-, Pflege- und für die gesetzliche Krankenversicherung. Vor kurzem lagen die Lohnzusatzkosten noch bei 40 Prozent. Wenn wir nicht aufpassen, sind wir Mitte der 30er Jahre bei 50 Prozent. Dann geht beim Arbeitnehmer ein Viertel des Bruttolohns für Sozialversicherungsbeiträge drauf. Das ist am Ende nicht mehr darstellbar. Diese Schieflagen können nicht allein dem Beitragszahler aufgebrummt werden.
Was schlagen Sie denn vor?
Die Politik hat im Kern drei Stellschrauben, um die Rentenversicherung zu stabilisieren: Die Beitragshöhe, die Rentenleistungen und das Renteneintrittsalter. Hier bin ich der Meinung: Wenn wir das Renteneintrittsalter schrittweise an das steigende Lebensalter anpassen, wäre das die beste Alternative.
Also Rente erst ab 70?
Ich würde da nicht pauschal mit einer festen Jahreszahl vorgehen. Wir sollten genau auf die Entwicklung der Lebenserwartung blicken. Die erhebt verlässlich das Statistische Bundesamt. Die Grundannahme ist: Wir werden erfreulicherweise alle im Schnitt gesünder älter. Wenn also die Lebenserwartung um ein Jahr steigt, dann sollte parallel auch das Renteneintrittsalter angepasst werden.
Dennoch gibt es ja Bereiche, für die eine längere Arbeitszeit nicht darstellbar ist…
Auch hier bin ich gegen Pauschalisierung. Natürlich gibt es Berufe, die körperlich deutlich anstrengender sind als andere. Da müssen wir schauen, dass wir diesen Beschäftigten ab einem gewissen Alter einen Wechsel in andere Bereiche deutlich erleichtern. Und für langjährig Versicherte bliebe ja trotzdem noch die Möglichkeit, mit Abschlägen früher in Rente zu gehen.
Trotzdem dürften Sie mit diesem Vorschlag anecken ...
Uns wird in der Rentendebatte immer wieder sozialer Kahlschlag unterstellt. Das Gegenteil ist aber der Fall. Wir haben ein extrem großes Interesse daran, dass unsere Sozialversicherungssysteme leistungsfähig bleiben. Das muss das Ziel sein. Damit wir es aber erreichen, muss jetzt massiv gegengesteuert werden.
Was schwebt Ihnen denn noch vor?
Jedes Jahr gehen 260.000 Menschen frühzeitig ohne Abschläge in die Rente, die rein statistisch zwei Jahre lang länger Rente beziehen als alle anderen. Das kostet den Staat schätzungsweise 13 bis 15 Milliarden Euro. Gleichzeitig bringt die Regierung aber eine Aktivrente auf den Weg, damit Menschen länger arbeiten. Man rechnet da mit etwa 30.000 Vollzeitstellen. Für die Sicherung der Finanzierung der Rentenversicherung bringt das aber gar nichts. Denn es wirkt so, als wenn man mit einem Fuß aufs Gaspedal – und mit dem anderen auf die Bremse tritt. Ich finde es gut, Anreize für längeres Arbeiten zu schaffen. Aber dann müssen wir auch die Frühverrentungsprogramme abschaffen.
Wie zufrieden sind Sie mit der neuen Koalition in Berlin?
Die Politik steht vor gewaltigen Aufgaben und der Wirtschaftsstandort Deutschland massiv unter Druck. Hohe Energiekosten, international nicht wettbewerbsfähige Steuerlasten und Arbeitskosten, kurze Arbeitszeiten, dazu eine erdrückende Bürokratie und langwierige Planungs-. und Genehmigungsverfahren. Manche Beschlüsse der Bundesregierung gehen grundsätzlich in die richtige Richtung. Der Einstieg in die Senkung der Körperschaftssteuer, der Investitionsbooster oder zuletzt die Erleichterungen bei den Energiekosten. Das reicht aber bei weitem nicht. Die gigantische Schuldenaufnahme wird nur wirken, wenn sie komplett in Zukunftsinvestitionen fließt und nicht für das Stopfen von Haushaltslöchern oder kostspielige konsumtive Ausgaben missbraucht wird. Wir brauchen jetzt dringend den Mut und die politische Kraft für eine große Agenda.
Wann hatten wir zuletzt so eine große Krise?
Zur Jahrtausendwende galten wir zu Recht als der kranke Mann Europas. Die Politik hat damals mutig mit der Agenda 2010 reagiert. Auch da hatten wir schon ein Problem mit der Wettbewerbsfähigkeit, aber unser starkes Exportgeschäft hat damals die Wirtschaft insgesamt noch stabilisiert. Inzwischen hat sich der internationale Wettbewerb noch einmal deutlich verschärft, weil andere besser geworden sind und zudem günstiger anbieten können. Deshalb schlägt heute das Wettbewerbsfähigkeits-Problem unseres Industriestandortes noch viel stärker durch. Hart waren natürlich auch die Finanzkrise 2008/2009 und die Corona-Pandemie. Beides waren aber externe Ereignisse, die quasi als Konjunktur-Einbrüche von außen auf uns eingeschlagen sind. Heute geht es aber um strukturelle Probleme insbesondere des Industriestandorts Deutschland. Und das erwartete Mini-Wachstum von rund 1 Prozent in 2026 wird nicht mehr wie damals vom Export, sondern von milliardenschweren Schulden des Staates getragen. Damit das Wachstum aber selbsttragend ist, brauchen wir private Investitionen. Doch die kommen nur, wenn die Politik die Standortbedingungen grundlegend verbessert.
Also schlechte Aussichten?
Wir sind als Industrie immer noch total innovativ. Wichtig ist aber, dass unsere Unternehmen hierzulande in Innovationen investieren und nicht anderswo. Wenn wir Bürokratie und Kosten wieder in den Griff bekommen, bin ich grundsätzlich zuversichtlich, dass wir dann auch wieder viele Chancen haben werden. Dafür brauchen unsere Unternehmen aber schnellstens wieder verlässliche wirtschaftspolitische und wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen. Uns läuft langsam die Zeit weg.
Das Gespräch führte Ingo Kalischek.

